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New York
 
 
Nehmen wir einmal: New York. Menschen küssen sich auf Dächern. Im Hintergrund Häusersilhouetten und ein grellroter Sonnenuntergang. Die Nacht fährt herein in die Stadt wie ein Zug in den Bahnhof, schaltet die künstlichen Lichter an. Und immer wieder ein Flugzeug. Flugzeuge über New York.

Ein Schwarzer spielt auf dem Klavier. Am Bass der weltbeste Bassspieler - natürlich aus New York. Auch der Schlagzeuger begeistert das anspruchsvolle Publikum der Weltmetropole. Jazzmusik dringt auf die Straße hinaus. Es ist noch warm. Die Lichter der Automobile verbinden sich zu rechteckig angeordneten Linien. Und überall dazwischen Amerikaner, die ihr Leben leben. In Eigentumswohnungen, beispielsweise im 56. Stock. Dort gibt es für sehr viel Geld eine sehr gute Sicht über die Stadt. Man kann über alles hinweg sehen, darüber hinaus, wenn man es will. 

Dort, wo alles groß ist, da käme er her, sagt der Amerikaner. Hier sei alles so altmodisch, klagt er. Die Häuser, die Flugzeuge, auch die Menschen dieser Stadt. Es ist die Stadt Nürnberg. Das alles sagt mir der Amerikaner, obwohl ich ihn nicht danach gefragt habe. Er hat vielmehr mir eine Frage gestellt, das Wort von sich aus an mich gerichtet. Ihn habe es hierher verschlagen, unfreiwillig allerdings, wie er betont. Nun muss er sich in dieser deutschen Stadt aufhalten, obwohl sich in seinem geliebten New York das Leben abspielt – ohne ihn natürlich, dort in New York, wo alles riesengroß ist und die Menschen dagegen so klein wirken. Er, der Amerikaner, sieht aber gar nicht so aus, wie man sich einen schwarzen Amerikaner vorstellt, etwa so wie jener agile Tänzer in dem Madonna-Video "Vogue". Er trägt ein ausgewaschenes Sweat-Shirt und eine Jogginghose, ist leicht untersetzt. Seine Gestik wirkt auf mich ungewöhnlich. Oft fuchtelt er mit den Armen herum oder zeigt mit den Fingern auf einen imaginären Punkt im Raum. Vielleicht ist das ja typisch amerikanisch? In einer Kneipe singt jemand italienisch: Se le ragazze di New York ... Die Sprache klingt fremd für ihn. Er versteht kein einziges Wort. Genauso wenig wie er die deutsche Sprache versteht. Warum spielt man hier keine amerikanische Musik wie überall? Das denkt er sich wohl.
 

Nehmen wir einmal: Nürnberg. Nachbarn beobachten sich mit Ferngläsern und fühlen sich dennoch weit voneinander entfernt. Ein Mann, der aussieht wie eine Bratwurst, beißt in eine Bratwurst. Hier trägt man noch Oberlippenbart. Nürnberg, die nordbayerische Großstadt, ist eine Stadt mit Geschichte und Erinnerungen. Der Amerikaner aus New York hat aber keine Erinnerung an Nürnberg. Er ist jung und er ist nicht informiert. Er ist schlecht gelaunt, kennt sich nicht aus in dieser Stadt. Deswegen fragt er mich nach dem Weg. In seiner Heimatstadt in Amerika kennt er sich natürlich gut aus – er kennt viele Straßen, Gebäude, MacDonalds-Restaurants. Dort kennt er auch alle Fernsehkanäle, weiß, was gerade passiert in den gängigsten Daily Soaps. Darüber ist er bestens informiert. Nicht aber über Nürnberg, die Stadt in der er sich im Moment befindet, jene mittelalterlich geprägte Stadt, die im 2. Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Er will es nicht wissen, warum sie zerstört wurde. Er fragt nicht danach. In den Kirchen befinden sich Austellungen mit Bilder über den Wiederaufbau. Der Amerikaner wird sie nicht besuchen. Warum sollte es ihn auch interessieren? Er hasst diese Stadt, in der er sich nicht zurechtfindet.
 
 

Alles ist viel größer in New York, sagt er immer wieder. Die Autos, die Häuser, die Flugzeuge. Sie  landen jetzt wieder in New York. Auch in Nürnberg landen Flugzeuge, manche stürzen sogar ab über den Tennenloher Forst. Davon weiß jedoch niemand in New York. Es handelte sich ja auch nur um eine kleine Propellermaschine, in der der Leiter einer High-Tech-Firma ums Leben kam. Sein Kopf lag abgetrennt irgendwo zwischen den Bäumen im Tennenloher Forst. Es hätte sie interessieren können, die Menschen in New York. Es war aber kein Fernsehteam zur Stelle, das entsprechende Aufnahmen für die interessierte Zuschauerschaft machte. 

In New York wurde Weltgeschichte geschrieben. Es war und ist natürlich eine sehr traurige Geschichte. Auch in Nürnberg wurde Weltgeschichte geschrieben. Aber darüber wird nicht sehr gerne gesprochen. Man verweist lieber auf die fast tausendjährige, ältere Geschichte. Deswegen ist hier auch alles so alt, wegen der Geschichte, das ist es, sage ich zu dem Amerikaner. Es wurde alles wieder aufgebaut. Zerstört und wieder aufgebaut. Alle Nürnberger waren sehr eifrig und halfen mit. So stelle ich es mir zumindest vor. In New York räumen sie inzwischen auch wieder die Steine weg. Aber das natürlich viel schneller und gründlicher als seinerzeit in Nürnberg. Zur Erinnerung an die gefallenen Türme stellte man in New York Lichtsäulen in den Nachthimmel. In Nürnberg ließ Albert Speer mit Flakscheinwerfern Lichtdome auf dem Reichsparteitagsgelände entstehen. Das war aber, bevor die Häuser in sich zusammen fielen. In Nürnberg zumindest erinnert man sich noch daran.
 

Der schwarze Amerikaner hat mich nach dem Weg gefragt und ich habe ihm in seiner Sprache und für ihn verständlich geantwortet. Ich empfehle ihm die U-Bahn, weil ich mir denke, dass ein Amerikaner nicht gerne zu Fuß geht. Als er verschwunden ist, denke ich mir, dass ich im Grunde nichts von Amerika, nichts von New York und nichts von Amerikanern weiß. Außer vielleicht, dass sie ungern zu Fuß gehen. Ich hätte ihm eine Frage stellen können. Ich hätte ihm viele Fragen stellen können.

 

  

Udo Schmitt, März 2002

 
 

 

 
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