Zurück zur Auswahl
 
Auf Messers Schneide
 
 
 
 
 
 
"Vermißt du mich schon? Meine Hand, meinen Arm?"

Du willst dich befreien, von mir unabhängig sein. Wer wird dir dann den nötigen Halt geben? Es ist nicht leicht, auf eigenen Füßen zu stehen. Warum hast du dich nur so weit vorgewagt? 

Du spürst den kalten Wind, der am Ende der Leiter weht. Ein leichtes Fieber steigt dir in den Kopf, man sieht es dir an. Ich reiche dir lächelnd die Hand, aus der Ferne. 

"Vertraue mir! Dann wird dir nichts geschehen, du mußt mir nur ganz fest in die Augen sehen. Und sieh' nicht hinunter zum Abgrund! Komm zu mir, dann bist du wieder in Sicherheit!"

Der nachtschwarze Himmel ist dir Zirkuskuppel. Autos fahren irgendwohin. Menschen sehen dich an. Du schluckst deine Angst hinunter. 

Trommelwirbel. Dann trittst du in den Scheinwerferkegel. Zwei Männer mit Feuerfackeln läßt du hinter dir. Die Musik schwillt an. Du setzt den ersten Fuß auf das Drahtseil. Das Publikum ist gespannt. Weit in der Ferne siehst du dein Ziel. Es ist der Regenbogen am Ende des Seils. 

"Versuch' es auf eigene Faust, wenn du meinst, versuche es nur! Berühre den Regenbogen, dann hast du es endlich geschafft! Doch sieh' nicht nach unten und sieh' nicht zurück!"

Der zweite Fuß überholt den ersten. Du befindest dich mit beiden Füßen auf dem Seil, hast den sicheren Halt hinter dir gelassen. 

"Sag, was ist das für ein Gefühl? Spürst du Hummeln im Leib? Ein Kribbeln in den Armen?"

Weit sind sie von dir gestreckt. Unten ein Kind mit einem Luftballon. Es sieht so traurig aus. Der Luftballon fliegt hinauf zu dir, vorbei an deiner Hand. Ballerinen  tanzen. Die Vorstellung auf dem Zirkusboden geht ohne dich weiter. Du stehst auf dem Seil, ganz  alleine. Niemand achtet auf dich. Nur ich. Ich achte immer auf dich. Meine Blicke sperren dich ein in einen Tempel. Es gibt nur eine mögliche Richtung für dich - zu mir. Alle Richtungen führen zu mir. 

Du bewegst dich, kommst vorwärts. Bis zur Mitte des Seiles. Ich warte. Sehe dir zu, gelassen. 

"Komm näher, komm näher! Zu mir!"

Deine Schritte werden schwer. Vielleicht gibst du auf. Dieser Weg ist deine Aufgabe. Du hast sie dir selber gestellt. Noch bist du nicht schwerelos. 

Am Ende fällst du doch herab. Reißt alle Träume mit dir mit. Fliegst so lang, so merkwürdig lang. Immer weiter. In die Dunkelheit. Hinaus, in die Nacht, in den Nachthimmel hinein. Du fliegst zu den Sternen. Eroberst den Raum. Dorthin, wo meine Gefühle dich nicht mehr erreichen. Du hast mich bereits aus den Augen verloren. Dieser Moment ist nur noch für dich. 

Die Enttäuschung wirft mich zu Boden. Ich war mir der Sache so sicher.

"Schau zurück! Schau zu mir zurück! Dann wirst du zur Erde fallen, wirst wieder in meinen Armen liegen. Ich werde dich halten und dir in die matten Augen sehen. Komm zurück! Beende den Traum!"

Doch du berührst die Sterne mit deinen zarten Händen, beachtest mich nicht. Ich weine ein paar Tränen. Sehe dich zwischen den Sternen schweben. Du funkelst noch einmal kurz auf - für mich - und ziehst deine Kreise - für dich. 
 

Udo Schmitt, August 2000
 
 
 

 Zurück zur Auswahl