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Auszeit
(Romanauszug Kapitel Winterling)

 
Herr Winterling hatte sich angesagt. Dieser Satz hing wie ein großes, aufdringliches Plakat mit riesigen Buchstaben im Raum. Herr Winterling war der Besitzer einer örtlichen Buchhandlung. Er hatte seinen Besuch mehrmals angekündigt, zunächst telefonisch, dann noch einmal brieflich, ohne den genauen Grund angeben zu wollen.

Selbst wenn Hermann versuchte, sich abzulenken, so kam ihm doch immer wieder das bevorstehende Zusammentreffen in den Sinn. Er wartete bereits 15 Minuten, unfähig, sich irgendeiner Beschäftigung zu widmen. Hermann beschloß, die Worte zur Begrüßung launisch zu formulieren. Oder sollte er sich lieber schweren Herzens von einer Arbeit losreißen? Die Wartezeit war zu lange, um auf vernünftige Gedanken zu kommen. Ruhe wurde im Raum ausgegossen, sie breitete sich kriechend aus, wie eine zähe Flüssigkeit. Sie erfaßte einfach alles, nichts wollte mehr geschehen. Draußen war es windstill, die blattlosen Bäume hielten den Atem an.

Hermann dachte an ein lautlos ums Überleben kämpfende Insekt, das, eingesunken in siedendes Öl, langsam schwächer wurde in seinen Bewegungen. Sämtliche Atemöffnungen waren bereits verklebt. Der Überlebenswille äußerte sich in nutzlosen Strampelbeibegungen. Hermann fragte sich, ob er in so seinem Fall nach Hilfe rufen würde. Eigentlich war alles zu spät, alles Hoffen vergeblich. Hermann bezweifelte, daß er in dieser Situation fähig sein würde, an das Unmögliche einer Rettung zu glauben. Im Grunde lohnte es sich nicht, die Kräfte für ein Nachher aufzusparen. Ist es menschlich oder tierisch, alle Kraftreserven zum Schluß aufzubrauchen, auch wenn es gar keinen Sinn mehr hat? Ein Programmierungsfehler: panische Hilflosigkeit siegt über die Vernunft. Würde in den letzten Augenblicken eines Lebens noch Vernunft verlangt oder ist dies der einzige Zeitpunkt, in dem man Unvernunft verzieh? Das Niedersinken des Insekts konnte nur noch kurze Zeit andauern. Der Tod würde schließlich durch Verbrennungen oder Ersticken eintreten. Verbrennen oder Ersticken? Welcher Tod wäre der schnellere? Welche Vergiftung würde den Körper eher zum Erliegen bringen? Hermann sah in Gedanken jenes Insekt, eine braune Heuschrecke, mit kräftigen Hinterbeinen, etwa zur Hälfte in die durchsichtige Flüssigkeit eingesunken, völlig ruhig, völlig bewegungslos. Man konnte das Tier von allen Seiten betrachten, es war noch ganz frisch. Es schimmerte rötlich, die großen Augen waren immer noch aufmerksam.

Was immer Herr Winterling zu sagen hätte, Hermann wollte ihn seinen Unmut spüren lassen. Was gab es Schlimmeres, Unnützes, als auf einen anderen Menschen zu warten? Ewig, beinahe für immer. Wie lange konnte ein Mensch überhaupt warten? Würde er es irgendwann einmal aufgeben? Hermann wollte noch ein Stück durchhalten, zehn Minuten vielleicht, und sich erst dann einer Beschäftigung widmen, einer sinnvollen Tätigkeit. Hermann versuchte an sinnvolle Tätigkeiten zu denken. Was gab es für Möglichkeiten? Er schob die Gedanken, die sich auf ein Nachher bezogen, die den Zeitraum nach dem Jetzt ausfüllen sollten, schnell beiseite. Er konnte nicht einfach den jetzigen Zeitraum überspringen, dieser war nicht ausgefüllt, zu Genüge erlebt, hatte noch keinen Sinn.

Hermann wartete weiter. Er dachte daran, ob er der Heuschrecke im letzten Moment noch hätte helfen können, vielleicht kurz nachdem sie mit dem siedenden Öl in Berührung gekommen war, nachdem nur die Beine und vielleicht die Unterseite des Körpers verbrannt waren. Vielleicht hätte die Möglichkeit bestanden, mit irgendeinem Gegenstand in das Öl zu tauchen, so daß das Insekt dankbar nach jener Rettungsmöglichkeit gegriffen, sich mit letzter Kraft emporgearbeitet hätte; weg von der Gefahr, wieder hinein in das volle Leben. Das volle Leben. Hermann stellte sich vor, wie das volle Leben nach einer Rettung förmlich überzuquellen drohte und aus allen Nähten platzte. Riesige Ölbilder mit faltigen, fetten Goldrahmen kamen ihm in den Sinn. Darauf befand sich eine Unzahl von Heuschrecken mit barockem Gebaren. Heuschrecken in Öl, der genaue Pinselstrich ließ Einzelheiten erkennen.

Die verunglückte Heuschrecke hielt sich an ihrem Leben fest, verzweifelt. Man konnte es sich zumindest denken, denn man sah ihr die Verzweiflung nicht an. Der Gegenstand, der für die Rettung gedacht war, könnte sich unter der Last des Insektes verbiegen, erwog Hermann, die Festigkeit durch die Wärme des Öles, die Wärmestrahlung, nahezu aufgehoben werden. Dann würde das halbe Leben wieder zurück in die Flüssigkeit tropfen und in ihr konserviert werden. Alle Mühe war umsonst, der Tod trat durch vorzeitiges Sich-Aufgeben ein, noch bevor im Fallen die Oberfläche der Flüssigkeit erreicht wurde.
Es klingelte an der Tür. Hermann atmete auf. Es war Herr Winterling.

 
 

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