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Cabo Formentor
 
  

Ein frischer Wind weht oben auf dem Mirador de Mal Pas. Er bläst Muster in die Grashalme, wellenbewegte Bilder, immer nur sichtbar für einen kurzen Moment. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor und wirft ihr Licht auf den Bergsattel wie ein Bühnenscheinwerfer, der die Szenerie eines Theaters beleuchtet. Ich halte mich am Geländer der Aussichtsterrasse fest und sehe die Steilküste hinunter.
 

Ich kann meinen Herzschlag fühlen. Viel zu laut hinein geschlagen in die   Komposition aus Farben, Gerüchen und Klängen um mich herum. Meine Füße kleben am Boden fest, die Hände umklammern krampfhaft die Metallstange der Sicherheitsabsperrung. Etwas zieht mich dennoch nach unten zu den Lichtspiegelungen des Meeres. Die Wellen, die immer wieder gegen die Felsen schlagen, werden mir mehr und mehr vertraut. Weit draußen auf dem Meer sehe ich, wie der Horizont zu verschwimmen beginnt und in den Himmel übergeht. Mir scheint, ein leises Lachen klingt leise zu mir herüber. Ich drehe mich um und sehe nicht weit von mir schwere Tische mit weißen Tüchern aufgestellt, geschmückt mit vielen bunten Blumengestecken. Kristallgläser spiegeln das Licht der Frühlingssonne wieder. Klassische Musik erklingt. Die Gesellschaft an der Tafel ist stumm. Du, meine Braut, bist mitten unter ihnen. Ich weiß, du kannst mich nicht sehen. Ich bin nur ein Lufthauch für dich, der über das Gras weht und sich zwischen Felsen wieder verliert. Dein Blick sieht starr hinaus auf das Meer. Es ist der Wind, der alles bewegt. Die Tischtücher, Kleider, Frisuren.
 

"Siehst du es nicht, mein liebstes Geschöpf", frage ich, "es sind alles Tote rings um dich her, verborgen hinter weißen Masken aus Leder und Stein mit Staub auf den Lippen der blutleeren Körper?". Die Speisen vor den Gästen sind alle unberührt. Köstliches Eis mit exotischen Früchten garniert auf blütenweiß strahlenden Tellern. Die Mutter der Braut ist erstarrt in ihrem letzen, freundlichen Lächeln, das über sie kam. Der Vater der Braut erstickte an einem Stück Spargelsalat, das ihm die Kehle verschloss. Bunte Cocktails aus Gift erstrahlen im Glanz der Nachmittagssonne. Des Bräutigams Kopf liegt achtlos im Gras.
 

Der mediterrane Wind weht einen Hauch von Jasmin zu mir herüber. Ich freue mich, denn dies ist heute der Tag, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben das Fliegen probieren möchte, die Aufwinde nützen, um hoch in den Himmel aus Zuckerwatte und schwarzem Trauerflor aufzusteigen. Ich drehe mich um zum Meer. Unter mir das Windgekräusel, das Wellenrauschen, der schneidende Fels. Wenn es Nacht wird, werde ich schon auf den Wellen treiben, stelle ich mir vor. Mein letzter Gedanke solltest du sein. Danach wäre alles für immer vorbei, denke ich. Das Meer würde aufhören, nach den Stränden zu greifen. Das erscheint mit als eine sehr schöne Vorstellung, als ein wunderschöner Traum, geträumt auf einem Fels weit über dem Meer.
 

Ich fühle die Anwesenheit der Hochzeitsgesellschaft immer noch hinter mir, obwohl kein Laut zu hören ist. Ein jeder bleibt stumm, niemand steht auf zum Tanz. Ich weiß, ich bin der Mörder dieser unschuldigen Menschen, die nur aufgrund meines Willens ihr Leben verloren haben. Darf ich selbst überhaupt noch leben, frage ich mich, nach dieser schrecklichen, grausamen Tat? Meine ganze Existenz erscheint mir inzwischen fragwürdig. Könnte ich nicht einfach langsam wie von selbst leblos werden? Nein, das wäre nicht gerecht. Ich habe mir ein anderes Schicksal ausgewählt, denke an den Moment, in dem das Wasser mich wie einen Faustschlag treffen und meine Knochen durcheinander wirbeln wird, beginne, mich nach diesem Augenblick zu sehnen, genauso, wie nach einem Leben mit dir. Ich sehne mich so nach einem Leben mit dir.
 

Nachdem ich eine längere Zeit am Rande des Riffs stehe, beginne ich plötzlich zu frösteln. Ich schüttle die seltsamen Gedanken ab, steige in mein Auto ein und fahre die Serpentinen wieder hinunter in das Tal, vorbei an einer kleinen, spanischen Kirche. Ich bleibe kurz stehen und höre der Musik von außen zu. In diesem Augenblick, so stelle ich mir vor, gibst du diesem Mann, den ich nie kennen lernte, das Versprechen für ein ewiges Leben mit dir. Wahrscheinlich fällt zu Hause in deiner Stadt gerade der Regen in deine frisch frisierten Haare und auf dein weißes Kleid. Ich erinnere mich, wie wir vor Jahren gemeinsam auf dem Mirador de Mal Pas standen und auf das Cabo Formentor sahen. Der großartige Anblick brannte sich ein in mein Gedächtnis. Wir wussten, dass  wir füreinander bestimmt waren, zueinander stehen wollten. Und das für alle Ewigkeit.
 
 
 

 
 

 
 

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