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Ferdinand und die Laterne 
 
 
Jedesmal, wenn die Eltern ihren kleinen Ferdinand in der Wiege betrachteten, mußten sie weinen. So groß war ihr Glück. Den ganzen Tag sahen sie Ferdinand an. Sagten "Ah!" und "Oh!" und küßten ihn auf die Stirn, wann immer sie konnten.
Inzwischen war Ferdinand größer geworden.  Die  Eltern liebten den kleinen Jungen immer noch so sehr, daß sie ihm jeden Wunsch erfüllten. Jeden Tag bekam er ein neues Spielzeug. Das war nicht schwer, denn Vater und Mutter von Ferdinand waren Zauberer. Ein Zauberspruch genügte und ein wunderschönes Schaukelpferd stand im Kinderzimmer. Oder eine Trompete, ein Teddybär, ein Indianerzelt ... Alles, was man sich nur denken konnte.

So saß Ferdinand oft alleine mit seinen vielen Spielsachen im Kinderzimmer. Freunde, die mit ihm spielten, hatte er leider keine. Denn er wollte sein Spielzeug immer für sich behalten und nie mit anderen Kindern teilen. Außerdem hatten alle Nachbarskinder Angst vor ihm. Seine Eltern waren ja Zauberer.

Wenn sich Ferdinand langweilte, holte er sein Fernrohr aus der Spielkiste heraus. Damit konnte er weit in die Straßen der Stadt schauen. Manchmal sah er in die hellen Fenster der Häuser. Und wenn er ein Spielzeug entdeckte, das ihm gefiel, so schrie er so lange, bis seine Eltern es herbeizauberten. Die Kinder, denen er das Spielzeug wegnahm, waren natürlich traurig und weinten.

An einem kalten Novemberabend entdeckte Fer-dinand durch sein Fernrohr ein paar Kinder aus dem Dorf. Es waren Timo, Sonja, Felix und Lena. Was hatten denn die Kinder da in der Hand? Farbenprächtige Laternen, die hell leuchteten in der Dunkelheit. Diese Laternen gefielen Ferdinand. Er schrie ganz laut, wie er es immer tat, wenn er etwas haben wollte. Seine Eltern kamen besorgt ins Zimmer geeilt und zauberten die Laternen herbei. Da war Ferdinand zufrieden.

Die Kinder aus dem Dorf erschraken sehr, als plötzlich die Laternen aus ihren Händen verschwanden. "Es ist so dunkel. Ich habe Angst!", sagte Lena.  "Wer hat unsere Laternen gestohlen?", fragte Timo. Felix, der Älteste der vier Kinder meinte: "Das waren bestimmt die bösen Zauberer vom Schloß. Sie stehlen die Spielsachen von den Kindern in der Stadt."

Eigentlich waren Timo, Sonja, Felix und Lena unterwegs zum Martinszug in die Stadt. Doch ohne Laternen konnte man nicht zu einen Laternenzug gehen. "Wir müssen unsere Laternen wieder holen", sagte Timo. Die Kinder fürchteten sich vor den bösen Zauberern. Sie machten sich aber dennoch auf den Weg zum Zauberschloß.

Bald tauchte das riesige, graue Schloß vor ihnen auf. In einem Fenster sahen sie Licht. Sie traten heran und sahen in das hell erleuchtete Zimmer. Dort hüpfte Ferdinand begeistert von einem Bein aufs andere. Und da waren auch ihre Laternen. Sie tanzten wie von Zauberhand um Ferdinand herum.

Die Kinder sahen traurig ihren tanzenden Laternen zu. Den ganzen Nachmittag hatten sie daran gebastelt. Sterne, Monde und Bäume aus bunten Seidenpapier ausgeschnitten und auf schwarzem Karton aufgeklebt. Doch plötzlich ging das Licht in den Laternen aus. Die Kerzen waren nach und nach herunter gebrannt.

Da wurde auch Ferdinand traurig. Vorbei war es mit der Farbenpracht. Die Kinder faßten sich ein Herz und klopften an die Fensterscheibe. Ferdinand erschrak, öffnete aber das Fenster. "Meine Laternen haben aufgehört zu leuchten. Sie sind gar nicht mehr bunt!", sagte er. "Du mußt neue Kerzen in die Laternen stecken!", meinte Sonja.

Doch Ferdinand wußte nicht, wie man das machte. Seine Eltern zauberten ja immer alles für ihn. "Du brauchst uns die Laternen nur zu geben, dann zünden wir sie wieder an", sagte Timo. Ferdinand reichte die Laternen durchs Fenster. Felix holte neue Kerzen und Streichhölzer aus seiner Tasche. Er war schon alt genug und durfte die Kerzen anzünden.

Bald darauf leuchteten die Laternen wieder so schön wie zuvor. Die Kinder waren glücklich und sprangen übermütig im Kreis herum. Ferdinand kam mit seinen Eltern aus dem Haus gelaufen und freute sich mit den Kindern. Felix gab ihm sogar seine Laterne. Der kleine Zauberer schaute sie mit leuchtenden Augen an.

Ferdinand war glücklich. Jetzt endlich merkte er, daß es viel schöner war, etwas mit anderen zu teilen und nicht alles für sich allein zu behalten. Er lachte und jauchzte zusammen mit den Kindern. Gemeinsam sangen sie das Lied von der Laterne:
Laterne, Laterne. Sonne, Mond und Sterne ...

Dann erzählte Felix die Geschichte vom heiligen Martin: An einem kalten Novembertag sah St. Martin hoch zu Roß einen armen, nur notdürftig bekleideten Mann. Mitleidig teilte er seinen Pelzumhang mit einem Schwertstreich und schenkte die eine Hälfte dem armen Mann.

Ferdinand wurde ganz traurig und schämte sich. Er hatte noch niemals etwas mit einem anderen Menschen geteilt. Die Kinder aber, die ihm eine Laterne geschenkt hatten, nahmen ihn und seine Eltern mit auf den großen Marktplatz.  Dort waren all die Kinder der Stadt und den umliegenden Dörfern mit ihren Laternen versammelt.

Was für ein buntes Treiben. Ferdinand bewunderte die vielen Laternen. Ihm war richtig fröhlich ums Herz. Die anderen Kinder hatten auch keine Angst mehr vor ihm. Ferdinand schenkte ihnen ein paar Zuckerstangen, die er noch in der Hosentasche hatte. Und seine Eltern bekamen ein Glas heißen Punsch vom Bürgermeister der Stadt.

Von nun an hatte Ferdinand viele Freunde. Er verschenkte fast seine ganzen Spielsachen. Nur seinen großen Teddybären behielt er. Den hatte er nämlich ganz besonders lieb. Die Eltern von Ferdinand mußten nur noch sehr selten etwas herbei zaubern. Der kleine Zauberersohn war glücklich und zufrieden mit seinen kleinen Teddybären und den vielen neuen Freunden.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen stand Ferdinand von nun an mit seinem Teddybären am Fenster und winkte in die dunkle Nacht hinaus. Manchmal sah es einer seiner Freunde und winkte zurück. Dann konnte Ferdinand ganz besonders gut einschlafen.

 
 
 
 
Udo Schmitt, Oktober 1994
 
 

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