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Hansi
 
 
  

Tränen purzeln mir unwillkürlich auf die mit Pril-Blumen verzierten Badezimmerkacheln. Wie gläserne Murmeln hüpfen sie zu Boden und dann durch den Raum. Sie haben meine Trauer in sich gefangen, gegossen in hartes, klares Glas.  

Er war der Sonnenschein in meinem Leben, der Sinn und auch mein Trost. Und jetzt ist alles aus. Niemals wird es so wie früher sein. Es ist vorbei. Warum, so frage ich, warum, weshalb, wozu. Ich schluchze und ich weine, denn er ist fort, mein einziger, mein Lichtstreif, mein, mein, mein ... 

HANSI!!!!!! 

Hansi ist tot. Ich fand ihn heute Morgen reglos in seinem Käfig. Armer kleiner Vogel. Die Liebe, die er mir gab war größer und mächtiger als alles andere auf der Welt. Mein geliebter Kanarienvogelliebling ist heute Morgen aufgestiegen in den gelben Kanarienvogelhimmel und hat mich einfach hier zurückgelassen, zusammengekauert auf dem kalten Boden zwischen Pril-Blumen-Kalcheln und verstreuten Erinnerungsfotos. Ich sah ihm traurig nach, als ich ihn ins Klo warf und herunterspülte. 

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als ich ihn von der Tierhandlung mit nach Hause brachte. Er leuchtete in seinem Käfig so hell wie die Sonne. Jeden Tag brachte er mir ein kleines Stück Glück in mein leeres, kleines Herz. Für mein Hansilein war es nicht schwer, die Worte zu verstehen, die ich zu ihm sprach. Nur er war es, der mich verstand, sonst niemand auf der ganzen Welt. Und immer kommen mir die Tränen, wenn ich nur an ihn denke. Sie rinnen über meine graue Wangen, bis ich schreie; hinein in diese verdammte Badezimmertristesse, in der man sich die Pulsadern aufschneiden könnte. Draußen fliegt ein graues Flugzeug am Himmel. Ich warte darauf, dass es Feuer fängt und auf mein Haus stürzt. Als dies nicht geschieht, schleppe ich mich ins Schlafzimmer und weine in die mit Kanarienvogelmotiven verzierten Daunenkissen.  

Das ganze Wochenende verbringe ich dösend im Bett, träume von den schwarzen, wachen Äuglein meines geliebten Freundes. Weckt mich nicht auf, ich möchte nur noch schlafen, jetzt und für immer. Im Traum begegne ich dem großen Kanarienvogelkönig. Sein erhabener Blick streift mein graues Gesicht. Kannst du etwas für mich tun? Ich lächle, bevor ich wieder weine. Der Kanarienvogelkönig schwimmt mit meinen Tränen davon, die Straße entlang und ich bin wieder allein. Er hatte mir nichts zu sagen. Nicht ein einziges Wort. Ein Kind spielt Mundharmonika. Das Tageslicht fängt sich in den Bäumen. Ich aber fliege im Wind. Es treibt mich hinauf, es erfasst mich, das Licht, die Thermik. Ich hebe ab, drehe mich im Kreis, bin ein Spiel für den Wind, sehe alles von oben. 

He, ihr da unten, warum liebt ihr euch immerzu, während ich hier oben schwerelos vor mich hin trauere? Wollt ihr dieses ewige Küssen und Herzen nicht endlich sein lassen? Natürlich beachtet mich niemand, wie immer. Niemand glaubt, was er sieht - niemand sieht, dass ich glaube, dass ich bin. Ich steige höher, es wird Mittag. Steige hoch mit der Sonne, auf in den gelobten Kanarienvogelhimmel - zu meinem Hansi. Gebettet auf goldenen Federn liege ich auf den Wolken. Für einen kurzen Moment bin ich glücklich. Ich bin glücklich, so denke ich jedenfalls. Luftsprünge, Turbulenzen, Dissonanzen. Ich falle. 

Als ich leise nach unten taumle, begegne ich dem Klang der Violine, die mir nüchtern erzählt, dass das Leben immer weiter gehen würde (das sei schließlich schon immer so gewesen). Der Tag lacht mir dazu laut in mein Gesicht, so dass ich die Augen schließe. Hast du nicht eine traurige Melodie für mich, damit ich wieder weinen kann, liebe Violine? Nein, fährt der Kontrabass schroff dazwischen. Stehe auf und gehe im Gleichschritt voran. Als schlechtes Beispiel. 

Ich sage nichts mehr, schalte die Musik aus, schalte die Gedanken aus,  schalte die Welt aus, schalte mich aus. Dann ist es aus.  
 
 
 

 

  

Udo Schmitt, Juli 2001
 

 

 

 

 
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