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Ich liebe mich
 
 
 
David C. Jensen
 
 
 
Am Morgen, als sie vor den Spiegel trat, sagte sie: 

"Ich liebe mich!" 

"Ich liebe meine Augen, die Nase, den Mund - ich liebe die Wangen, das Kinn, die Brauen. Ich liebe mich - ganz." 
"Ich liebe den Hals ..." 

Sie faßte sich an den Hals. 

"Ich liebte auch meine Kinder ..." 

"Ich liebte ihr Lachen, ihre Freude; ich liebte die hellen Stimmen, zuweilen." 
"Ich liebte das Leben und haßte den Tod." 
"Ich hasse den Tod." 

In der Morgendämmerung sahen ihre Gesichtszüge grau aus. 

Die Kinder waren fort - weit fort. 
Im Zimmer nur Stille. 

Sie sah zur Decke, ein Haken, ein ein ... 
ein Stuhl stand bereit. 
Die Kinder waren ganz stumm gewesen, hatten die Augen langsam geschlossen. 

Heute würden die Männer kommen, würden ganz sicher kommen - würden sie finden. 

Sie dachte nicht an ihr Leben, sie dachte nicht an den Tod, dachte nicht an die Kinder. 
Sie dachte daran, höher zu steigen, bis hinauf an die Decke, zum Himmel, wie ein Vogel, so leicht ... 

Sie dachte an den Himmel, während der Küchenstuhl polternd fiel. 
 
 

Udo Schmitt, Juli 2000
 
 
 
 
 

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