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Luise reist
 
Dumpfe Schläge an die Abteiltür. Der Nachhall dröhnt kurzzeitig durch den ganzen, menschenverlassenen Zug. Der ICE Richtung Wanne-Eickel braust auf stählernen Gleisen durch die Nacht. Er, der Zufällige, der Alt-Bekannte, beugt sich zu ihr hinunter und flüstert behutsam: Es gibt im Leben noch viel mehr zu entdecken als du ahnst. Es ist das Gefühl, das dir zeigt, daß du lebst.

Der Zug rattert dahin, Silben und Worte mit mahnendem Sinn hinter sich zurücklassend. Dörfer, Städte und Brücken huschen vorbei. Die liebende Mutter ruft in der Ferne mit ihrer tiefen, vertrauten Stimme. Regen prasselt ans Fenster, Regenschirme befinden sich im Gepäcknetz. Luise besucht die Großmutter. Im Abteil auch Herr Wolf.

Luises Kopf schlägt leicht gegen die Glasscheibe, im monotonen Rhythmus der Fahrt. Ihre Augen sind an die Decke gerichtet. Der Wolf ist sehr aufmerksam, blickt mit seinem scharfen Blick an ihr vorbei, durch die Glastüre auf den leeren Gang. Sein haariges Fell kratzt auf ihrer Haut. 

Luise wollte noch Blumen pflücken. Jetzt ist es aber Nacht, viel zu spät, um durch die Wiesen zu streifen. Dämmerlicht im Abteil. Luises Atmen wird flach. Draußen die Lichter der Städte. Überall auf dem Weg gibt es Menschen hinter den Mauern und vor den Fernsehgeräten - in den Badewannen, in den Federbetten, sich liebend, im Streit, wartend, ausharrend. Dort hinter den hell erleuchteten Fenstern sitzen sie und machen sich Gedanken über ihr Leben. Es vereint sie alle der Wunsch nach einem besseren Leben, nach einem anderen Leben. Auch Luise träumte immer von ihrem zukünftigen Leben.

Luise spürt die Bauchdecke wie das straff gespannte Fell einer Trommel. Ein gleichförmiger Rhythmus durchdringt ihren Körper, ähnlich dem schwerelosen Fliegen auf einer Schaukel. Sie hatte so oft von diesem Fliegen geträumt. Jetzt wird sie das süße Geheimnis des Lebens erfahren. Es ist so einfach, das erträumte Gefühl zu erleben, wenn man die Augen dabei schließt. Und ihre Mutter ruft noch immer. Wenn man sie nur verstehen könnte. Sie klopft an die Türe zum Kinderzimmer: Schläfst du noch nicht? 

Der Wolf ist bereit, bäumt sich auf, verjagt die Mutter mit einem grimmigen Blick. Seine starken Arme können zupacken, sein Maul heftig zubeißen. Und was er einmal zwischen den Zähnen hat, läßt er nicht mehr los. Luise gleitet rückwärts in einen neuen Traum von bunten Blumen an einsamen Waldwegen. Derweil geht die Fahrt unentrinnbar weiter. Das Schlagen an die Abteiltüre wird heftiger. Das Licht flackert, die Luft ist stickig. Der Traum wird schmerzhaft, quält sie, würgt sie, tötet sie.

Stille.

Draußen dämmert der neue Tag, die Sonne wirft ihr erstes Licht in die glitzernden Regentropfen. Keine Geigen an diesem Morgen, keine Rosen, keine Küsse - nur Blut tropft von den Bäumen. Ein Rinnsal weitet sich aus zum Bach und fließt über das trauernde Land. Der Jäger im Wald geht auf die Jagd und schießt den Hasen tot. Herr Wolf geht auf asphaltierten Wegen und träumt von jungen Trieben, die aus frischen Knospen wachsen. 

Die Menschen schweigen, wenn sie für immer Abschied nehmen. Stehen am Rand,  jeder für sich allein. Asche zu Asche und das Warum mit ins Grab. Derweil brennt die Sonne auf schwarze Kleider und viel zu große Hüte. Die Sonne - sie geht unter und sie geht auf. Die Hoffnung versiegt jedoch für immer, wie ein Becher Wasser in der Wüste, sinnlos und viel zu schnell.

Der Wolf raucht seine Zigarre und bläst Ringe in die Luft. Etwas wird nie vergehen, sagt er tröstend zur Mutter. Es ist die Erinnerung. Sie bleibt für immer jung.
 

 

  

Udo Schmitt, Juli 2001

 
 

 

 
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