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  Der Mensch sucht - des Menschen Sucht
 
 
  

Die Beschreibung: 

Es ist wie ein Gebet, ein Lichtstreif, ein Windhauch, der mein Fenster öffnet und meinen Verstand mit hinaus ins Freie nimmt, ihn über Bäume hinweg durchs Land weht, so dass Menschen mit Fingern auf ihn zeigen. Ich setze ein großes, weißes Segel. Das ist es, was ich fühle. 
  

Die Begründung: 

Glaube nur nicht, das Leben ist lang genug. In diesem Moment ist es bereits zu spät für genau diesen einen Moment, zu spät für den Schlaf, für das Leben, für die Musik, für die Liebe, für den Wein, für die Frauen, für die Männer, für die Menschen in den Gräben, in den Gräbern, in den Lagern, in den Todeszellen, es ist zu spät, um ihnen eine Träne nachzuweinen, zu spät für die Rettung. Es ist immer zu spät. 
  

Die Erwiderung: 

Halte mich nicht auf, ich muss weiterkommen, mein Leben zu Ende leben, muss meine Lebensleiter hinaufklettern, die Meere durchschwimmen, die Berge bezwingen, die Lüfte erobern, auch wenn die Sonne herunterbrennt oder die bunten Lichter am Abend zu anderem Tun verlocken. Ich renne über Wiesen, über Felder, vorbei am Wasser, am breiten Strom entlang, ich muss hinüber auf die andere Seite, denn dort wartet die Erfüllung auf mich, dort befindet sich mein Glück, dort ist der Sonnenschein und auch der Regenbogen, dort irgendwo ist das Ziel, das Leben, dort wartet mein Grab auf mich. 
  

Der Zweifel: 

Die Luft ist so bewegungslos. Wie kann das alles Wirklichkeit sein, der Vogel, der sich in der Luft hält, das Segelboot, das nicht untergeht, die Wahrheit, die für alle gültig ist, mein Leben, das in vorhersehbaren Bahnen verläuft und gelenkt wird von den Richtlinien, die sich irgendwer ausgedacht hat. 

Die Richtlinien: 

Achte darauf, dass die Schnürsenkel immer richtig gebunden, deine Gedanken vorschriftsmäßig geordnet sind, dass du deinen Wagen nicht im Parkverbot abstellst, dass du nicht lügst, dass du nicht mordest, dass du nicht lauter schreist als es die Nachbarn ertragen können, achte darauf, dass dein Haus keinen Schatten wirft und bedenke den Unfug, den du, deine Frau und die Kinder in die Welt setzten, der nie mehr vergeht und für immer bleibt. Doch vergiss nie, so sagt die Richtlinie, laufe weiter die Straße entlang, durch U-Bahnschächte, durch Tunnel, durch Gänge, durch Rohre, zwänge dich durch Öffnungen, denn der Mensch sucht immer und sein Leben lang nach einer passenden Öffnung, durch die er sich zwängen kann und so zwänge auch du dich durch dein Leben, durch die Zeit, strebe zum Licht,  wie die Pflanze, die sich durch die Erde bohrt, gehe weiter, bleibe nicht stehen, denn Stillstand bedeutet den Tod. 
  

Der Ratgeber schreibt vor: 

Die Zündschnur nicht feucht werden lassen, den Holzstab durch die Öffnung der Flasche führen und bis auf den Grund gleiten lassen, die Schnur anzünden, sich schnell entfernen. Nach wenigen Augenblicken werden Sie Ihr Wunder erleben, Ihr blaues, rotes und goldenes Wunder. Es wird Sie begeistern. Sie werden beten, dem Hersteller danken und vor Begeisterung schreien, ihre Kinder umarmen und ihre Frau küssen, und vielleicht werden Sie vor Glück weinen. Fühlen Sie ihr Leben jetzt, fühlen Sie das, worauf es ankommt. Springen Sie auf, kehren Sie um, leben Sie mit, ehe es endgültig zu spät ist, zu spät, um zu leben, zu lieben, zu empfinden, zu träumen, zu bestehen. 
  

Das Ergebnis: 

Viele sind begeistert, schwören auf die Wirkung und zeigen es offen mit dem Glanz  ihrer Augen, kommen nicht los und wollen nicht loskommen, sind gefangen in sich und in der Faszination. Wir helfen Ihnen gerne; pfeifen Sie auf die Wirklichkeit, auf ihre  Stellung, die Gesellschaft, das Publikum, die Anerkennung, die Beförderung, den Aufstieg, das Fliegen, die Menschen, die Farben, die Liebe, das Leben, die Gesundheit, das Glück und wählen Sie einfach ... den Tod. 
 

 

  

Udo Schmitt, August 2001

 
 

 

 
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