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Von nun an für immer
 
 
 
Weite, endlose Räume. Und die Stille. Keine vollständige Stille. Ein merkwürdiges Rauschen war ständig im Hintergrund zu hören, wie das ferne Geräusch einstürzender Wohnhäuser. In Gedanken versunken ging er am Ufer des schwarzen Sees entlang. Mondlicht spiegelte sich auf der glatten Oberfläche. Durch die finstere Nacht drang ein leises Summen. Es war sein Summen gegen die Angst. Die Angst, die er nun jeden Morgen und jeden Abend verspürte, wenn er aufwachte, wenn er nicht schlafen konnte. Es war die Angst vor dem Alleinsein. Allein mit sich selbst. Verloren in der Welt, der großen, weiten Welt.  

"Wenn das Wasser den Körper umgibt, merkt man die Kälte kaum", dachte er. In Gedanken erklangen ihm die weichen Töne einer Gitarre. Sie spielte fröhliche, einfache Kinderlieder, erzählte Geschichten aus einer glücklichen Zeit. Lichter konnte man am anderen Ende des Wassers erkennen. Es waren die Fenster der Häuser, die sich im dunklen See wiederfanden. Flackernde Lichter, wie kleine, lebendige Augen. Er erinnerte sich an ihre hellen Augen und an ihr fröhliches Lachen. Dies waren sie, die glücklichen Zeiten. Wie schön hätte es werden können.  

Seine dunklen Augen, das ewige, abgrundtiefe Sorgenmeer,  waren ihr immer wie ein geheimnisvoller Spiegel gewesen , auf dem bunte Sterne funkelten. Und in der Nacht, in der endlos dunklen Nacht, da kam er oft und trocknete ihr die Tränen. Dann, wenn sie Angst hatte, weil die Nacht, die endlos dunkle Nacht wieder einmal kein Ende nehmen wollte.  

Er ging mit lautlosen Schritten durch das weiche Gras. Das schwarze Wasser schien ihm wie ein kaltes und doch vertrautes Grab. Und immer, wenn die Verzweiflung in Wellen kam, in immer wiederkehrenden Wellen, die Stimme erstickte und Tränen in die Augen trieb, mußte er an das kleine, fröhliche Wesen denken, das Mädchen mit den goldenen, blonden  
Haaren und dem erfrischenden Lachen, das selbst Tote erwecken konnte. Dieses Kind zauberte sogar ihm ein Lächeln in das Gesicht, ihm, den Verzweifelnden, den Sorgenvollen.  

"Komm gib mir deine Hand, reiche sie mir! Du wirst es schaffen, du wirst es ganz sicher schaffen." Dies waren seine Worte. "Sei mutig, mein Kind, ich brauche dich! Ich brauche dich mehr als alles." Das dachte er nur für sich.  

Im Krankenbett sah er noch ihr wunderschönes Lachen. Ein Lachen, das das ganze karge Zimmer ausfüllen konnte. Wenn er sich abwandte, hatte er Tränen in den Augen. Er, der sich immer nur Gedanken um die Zukunft machte, er, der für alles verantwortlich war. Sie hatten beide jedoch keine Zeit mehr für ihre Zukunft, nur noch für die Gegenwart. Der heutige Tag war wichtig, kostbar, einmalig. Würde es ein Morgen geben? Vielleicht. Das Hier und Jetzt mußte nun von ihnen genossen und ausgelebt werden. Doch das schaffte er noch nie. Er hatte immer nur Vorkehrungen für die Zukunft getroffen und dabei den momentanen  
Augenblick vollständig vergessen, schlicht übersehen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er gezwungen, im Hier und Jetzt zu leben.  

Und er nahm sein Kind in die Arme, fuhr mit ihm auf den blauen See hinaus, in einem Ruderboot,  schwamm zwischen bunten Enten hindurch, die lustig auf den Wellen schaukelten. Das Kind lachte die ganze Fahrt über. Es konnte so fröhlich lachen. Er jedoch dachte sich bei jedem Lachen, ob es wohl das letzte sei, das letzte, das er von ihm hören  
würde.  

Die Schmerzen konnte sie für kurze Zeit vergessen an jenem Sommertag. Kleine Kinder planschten am Ufer mit ihren Eltern. Das Mädchen saß glücklich im Boot. Ahnte es etwas? Wußte sie es? Niemals fragte sie, was später einmal sein würde. Es war ein wunderschöner Tag, ein Tag so recht geschaffen für die Erinnerung.  

An ihrem Grab hatte er geweint. All die unterdrückten Tränen flossen über sein Gesicht, die Tränen, die er ein ganzes langes Jahr nicht weinen durfte. Es rann aus ihm heraus, Bäche von Tränen, ein nie enden wollender Fluß. Sie versickerten in der lockeren Erde zwischen sorgsam gepflanzten Frühlingsblumen. Jetzt mußte er nicht mehr stark sein. Jetzt war er endgültig alleine. Alleine mit sich selbst. Nur noch er selbst. Eine Einzelperson. Ein einsamer Mann... Auch ein alter Mann? Ein Mann am Ende seines Weges? Am Ende seiner Tage? Die Vergreisung vollzog sich abrupt. Gedanken ergrauten und die Erinnerungen erschienen ihm wie mit Nebel eingehüllt, ein Nebel so dumpf wie Watte, mit der man besonders kostbare Erinnerungsstücke umgab. Und immer wenn er am See entlang schritt, in der Nacht, in den finsteren, lauen Nächten, dann konnte er sein Kind wieder ganz deutlich sehen. Es war, als ob sie an seiner Hand lief, so als ob sie mit ihm sprach. In seiner Phantasie konnte sie auch wieder richtig laufen, sie hüpfte regelrecht neben ihm her. So, wie es auch all die anderen kleinen Kindern neben ihren Vätern taten. Und der sich spiegelnde Mond begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und das Wasser, das salzige Wasser in den Augen brannte. Es brannte wie Feuer.  

Von nun an war er also allein. Ganz allein. Allein für immer.

 
 
 
 
 
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