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Der schlagende Plastikmann und die wehrlose Plastikfrau 
  

  

 
 
 
  
Als er ihr ins Gesicht schlug, dachte sie sich noch: Jetzt ist alles endgültig aus. Es war Weihnachten. Eine kindliche Engelsfigur grinste von einem Tannenzweig auf die zwei Menschen in ihren Festtagsgewändern herab. Die Augen des Mannes starrten die Frau an, sie versuchte jedoch, dem wütenden Blick auszuweichen. Er hielt sie fest und zwang sie unerbittlich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie schloß verängstigt die Augen. Von draußen warf die Wintersonne Lichtstrahlen durch das kleine Fenster. Ein paar verfrohrene Vögel pickten Körner von der Fensterbank auf. Man konnte ihr Picken und das Tapsen der kleinen Krallen hören. Aufgeschreckt von dem Geräusch, das die Hand in dem Gesicht der Frau erzeugte, flogen die Vögel plötzlich auf und ließen sich auf einem kahlen Ahornbaum nieder. Der Wind wehte eisig durch das Geäst. Kinder tobten die Straße entlang, einen kleinen Hund vor sich herjagend. Das verängstigte Tier versuchte zu entkommen, die Kinder holten ihn aber immer wieder ein. Die Kinder lachten und waren vergnügt. Der Hund verkroch sich unter einem alten Auto. Die Kinder versuchten ihn, mit einem Ast wieder hervorzuholen. Dann verloren sie die Lust an ihrem Spiel und rannten lärmend davon. Der Hund kam zögernd unter dem Auto hervor. Nach einer Weile stieg ein junges Ehepaar in das Auto ein und fuhr hinaus aus dem Ort. Es entwickelte sich eine heftige Diskussion zwischen den beiden, in deren Verlauf die Frau dem Mann vorwarf, daß er sie nicht genug liebte. Der Mann war irritiert und überfuhr fast eine alte Frau. Die alte Frau drohte mit ihrem Regenschirm. Dann setzte sie ihren Weg fort zu den Enten im Teich. Die alte Frau bildete sich ein, daß die Enten sehr traurig aussahen inmitten der Schneeflocken. Als die Enten merkten, daß sie kein Brot von der Dame zu erwarten hatten, schwammen sie ans andere Ufer zu einem alten Mann. Der alte Mann konnte die alte Frau nicht mehr sehen. Sie war bereits fort. Er dachte an eine andere Frau. An seine eigene Frau. Sie war leider tot, seit vielen Jahren. Er erinnerte sich an seine Einsamkeit und daß es an Weihnachten immer besonders schlimm war. Der alte Mann seufzte und ging weiter. Er stieg in den Bus und fuhr zurück in die Stadt. Die vielen Lichter konnten ihn über seine Schwermut nicht hinweg trösten. Er sah einen verängstigen Hund, der sich hinter Mülltonnen versteckte. In den Mülltonnen befanden sich Kartons von den Geschenken irgendwelcher Kinder. Auf einem Karton war mit Plastikfiguren eine Familie unter dem Weihnachtsbaum nachgestellt. Der Plastikmann schlug der Plastikfrau gerade mit der Hand ins Gesicht. Der alte Mann ging an den Ahornbäumen vorbei, zurück in sein Zimmer im Altenheim. Im Radio spielte ein Lied. Die Sängerin beklagte sich düster, daß ihr Mann sie nicht genug liebte. Der alte Mann drehte das Radio ab und fütterte die Vögel auf dem Fensterbrett. Er holte sein Fernglas heraus, wie er es jeden Nachmittag tat, und sah in die Fenster des Nachbarhauses. Ein Mann schlug gerade einer Frau ins Gesicht. Vögel flogen in die Ahornbäume. Der alte Mann richtet sein Fernglas auf das blattlose Geäst. Kinder kamen herbei, ein Hund und ein Ehepaar, das im Auto davonfuhr. Dann passierte nichts mehr und der Mann sagte zu sich:  
  
Warum nur schlägt der Mann der Frau jedes Jahr ins Gesicht?  
 
 
 

  

  
 
Udo Schmitt, Dezember 2000
 
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