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Mythos Mann
  
Der Schriftsteller, Anfang 50, leicht untersetzt, schütteres Haar, liest mit leiser Stimme aus seinem neuesten Werk. Es handelt von einem Jüngling, der sich laut Beschreibung des Autors "in der letzten Phase der Pubertät" befindet. Dies ist offensichtlich ein sehr schwieriger Lebensabschnitt. Beim Anblick jeder Fernsehzeitschrift mit einer halbbekleideten Schauspielerin auf dem Titelbild steigt unweigerlich der Testosteronspiegel, ständig hat der junge Mann mit ungewollten, nicht steuerbaren Reaktionen in der Hose zu kämpfen und dies auch noch an den unmöglichsten Lokalitäten: in der Schule etwa, in der Kirche oder auf dem Friedhof. Immerzu ist er mit dem Zeichen ewiger Geilheit stigmatisiert. Das alles hat natürlich einen tieferen Sinn, denn das unbarmherzige Ziel, welches die Natur hier vorgibt, ist es, möglichst schnell ein Weibchen zu finden und dieses zu befruchten, oder wissenschaftlich ausgedrückt, für den Erhalt der eigenen Gene zu sorgen. Und um dieses Ziel zu erreichen, beutelt die Natur den bedauernswerten Jüngling ganz gewaltig. Die Gene sind noch knackig und frisch, sagt sich die Natur, und deswegen müssen sie verschwenderisch unter das Volk gestreut werden. Die Natur hat für diese Art der Empfängnis den weiblichen Teil der Bevölkerung vorgesehen. So mancher Neunmalkluge hält sich jedoch nicht an diese Bestimmung und vergeudet sein Erbgut durch alle möglichen Spielereien. Wie wir wissen, bestraft die Natur solches Tun mit Rückgratdeformation und einer besonders schlimmen Krankheit namens Aids.      

Über weibliche Pubertätsprobleme habe sie noch nie etwas gelesen, sagt die Kritikerin im Anschluss an die Lesung. Es gäbe wohl keine Probleme, zumindest würde sich niemand dafür interessieren oder es als lohnend betrachten, darüber zu schreiben, resümiert sie. Die Weibchen müssen bei diesem Prozess ja auch nur geduldig warten, vielleicht ab und zu die richtigen Signale aussenden, um nicht übersehen zu werden, überlegen die Kritikerin und der Autor. Das ist für die Literatur wahrscheinlich ein weniger interessanter Vorgang. Die Mädchen seien plötzlich verändert, fügt die Kritikerin nach kurzem Überlegen noch an, von einem Tag auf den anderen. Das habe sie von ihrem Bekannten, einem Familienvater, gehört. Man könne es gar nicht genau sagen, worin diese Veränderungen bestünden. Aber als Familienvater spüre man das, sagte ihr der Familienvater. Doch niemand schreibt jemals einen einzigen Satz darüber. Jeder schüttelt nur den Kopf und richtet seinen Blick auf den pubertierenden Jüngling, der am liebsten die ganze Welt einreißen möchte, nur um ein einziges Mal zum Zuge zu kommen.       

Der untersetzte Schriftsteller, selbst wohl eher schüchtern, sagt, dass er sich das alles zu Hause in einem kleinen, nur mäßig erleuchteten Arbeitszimmer ausdenke. Aber er müsse doch eigene Erfahrungen gemacht haben, wenn er immerfort davon schreiben würde, das müsse doch er selbst sein, der in seinen Geschichten so hautnah zu erleben sei, meint die Kritikerin. Der Autor lächelt schüchtern und murmelt etwas unverständliches. Für die Kritikerin liegt der Fall jedoch klar: Schon in seinen früheren Werken beschäftigte sich der Autor immer wieder mit derselben Thematik.       

Es ist natürlich das Geheimnis des Autors, wie er sich so intensiv in seine Hauptperson hineinversetzen kann. Vielleicht spürt er beim Schreiben ja auch so ein Jucken, das von den Spitzen der Extremitäten ausgeht und dann wie eine Welle in jenem Organ zusammenstürzt, um das sich für den "Pubertierenden in der Endphase" die ganze Welt dreht. Großartig, denkt sich der Leser, was hat der leicht untersetzte Autor Anfang Fünfzig doch noch für eine Fantasie. Seine Testosteronwerte mögen bereits auf ein bedrohliches Maß abgesunken sein. Die Träume vom Waschbrettbauch überlässt er inzwischen auch lieber den Journalisten einschlägiger Zeitschriften. Der Autor jedoch hat einen Ausweg für sich gefunden, einen Ausweg, der ausschließlich der schreibenden Zunft vorbehalten ist: Er kann sein Resttestosteron verdichten und in seinen Protagonisten injizieren, ihn hinaus in die Welt schicken und all die Dinge erleben lassen, die er selber nie erleben durfte, die aber in seiner Fantasie ganz lebendig sind. Und deswegen bewundert der Leser den Autor, weil in der Welt des Autors alles noch so ist, wie es sein soll, nämlich: testosterongesteuert.    
 
 
 

  
Udo Schmitt, September 2002

 
 

 

 
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