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Der brave Junge
 
 

Sie saßen gemeinsam unter dem bunten Sonnenschirm. Ihm tropfte das Schokoladeneis auf den haarigen Bauch. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das Meer kam in gleichförmigen Wellen immer näher. Die Sonne brannte herab. Es war Mittag. Nichts passierte. 

  "Warum schaut er nur immer so ernst?" Der Mann durchbrach das lange Schweigen. Er  beugte sich zu dem Jungen hinunter: "Lach doch mal!". Zur Frau gewandt: "Das Kind ist immer so ernst. Fast zornig. Mißtrauisch...." 
  "Er ist immer nur alleine. Viel zu viel alleine. Hat keine Freunde, du verstehst?", sagte die Frau. "Vor ein paar Wochen zündete er seinen Hasenstall an, nur aus Langeweile. Er brannte schon lichterloh. Die Hasen starben fast vor Angst, bis ich sie entdeckte und mit dem Gartenschlauch rettete."  
  "Gib ihm doch eine Banane. Gib dem Kind doch eine Banane", meinte der Mann. 
  "Man könnte ihn in den Arm nehmen", sagte die Frau. "Der arme Kleine. Immer ist er  allein."  
  "Den Hasenstall ziehe ich ihm aber von seinem Taschengeld ab", meinte der Mann leicht verärgert. 

Die Hitze steigerte sich. Menschen saßen und lagen haufenweise nebeneinander. "Vor einer Woche kaufte ich ihm eine Brille", erzählte die Frau nach mehreren Minuten. "Er liest viel", meinte sie. "Das würde sich lohnen, dachte ich mir - kaufen wir ihm also eine Brille." Und weiter nachdenklich: "Der Junge liest so viel." Nach einer weiteren Pause: "Liest viel zu viel." Sie seufzte. "Er hat noch gar keine Freundin. Und das in seinem Alter. Warum hat der Junge nur keine Freundin?" 
  "Er sieht einfach nicht gut aus", meinte der Vater knapp. 
  "Von mir hat er das aber nicht", ereiferte sich die Frau. 

Der Mann biß sich auf die Unterlippe. "Das Kind bekommt eine lange Nase. Findest du nicht, daß das Kind eine sehr lange Nase bekommt?" 
  "Junge, laß mal sehen!" Die Frau musterte ihren Sohn. "Ja wirklich, sonderbar! Und Bartwuchs hat er auch schon." Sie kicherte. Danach fügte sie tonlos hinzu: "Aber eine Freundin hat er noch nicht. Alle haben eine Freundin. Er noch nicht." 
  "Er sieht auch nicht gut aus", wiederholte grummelnd der Mann. 
  "Er ist aber bereits sehr weit entwickelt, findest du nicht?" 
Der Vater schüttelte den Kopf. "Junge, stell dich doch mal vor uns hin, laß sehen!" 
  "Siehst du", sagte die Frau und kicherte. "Siehst du es jetzt? Aber eine Freundin hat er noch nicht." 
  "Sei froh", sagte der Mann. "Am Ende schwängert er uns noch ein Mädchen und dann haben wir den Salat." 
  "Davon weiß er doch noch gar nichts", meinte die Frau geheimnisvoll. "Oder hast du es ihm etwa erzählt?" 
  "Ich?", fragte der Mann entrüstet. "Nicht daß ich wüßte. Erzähl du es ihm doch!" 
  "Nein, nein! Euer ernstes Männergespräch müßt ihr schon alleine führen". Die Frau kicherte erneut. Sie zeichnete mit ihrer Zehe ein Muster in den Sand. Gedankenverloren sagte sie: "Er hat nur seine Bücher, nichts weiter als seine Bücher." 
  "Was sind das für Bücher? Hast du schon einmal nachgesehen?", fragte der Mann. 
  "Ja, ich habe nachgesehen. Es gibt keine Bilder in seinen Büchern, nur Worte - viele Worte." 

Es entstand eine lange Pause. Fast wäre der Mann dabei eingeschlafen. Durch eine Bemerkung der Frau wurde er aber aus seinem Halbschlaf aufgeweckt: "Der Junge denkt immer so viel nach", klagte die Frau. 
Der Mann räusperte sich. Nach einer Weile griff er den Gesprächsfaden auf: "Was er nur immer denkt? Was er nur den lieben langen Tag denkt, immerzu?" Der Mann sah eine Weile stumpfsinnig vor sich hin. Danach sagte er leicht ungeduldig, zum Jungen gerichtet: "Sieh doch endlich einmal hinaus aufs Meer! Jetzt, wo wir endlich hier sind, am Meer. Hast du dir das nicht immer gewünscht?" Der Vater war ärgerlich. "Hörst du die Wellen?", fragte er. "Höre den Wellen zu! Zuhause wirst du keine Wellen mehr haben."  
  "Oder geh‘ schwimmen!", fügte die Mutter hinzu. "Möchtest du gar nicht im Meer schwimmen? Alle Kinder wollen doch im Meer schwimmen." 
  "Er nicht!" 
  "Kann er eigentlich schwimmen?" 
  "Hast du es ihm nicht beigebracht?" 
  "Das weiß ich nicht mehr". 

Wieder entstand eine lange Pause. "Was wohl einmal aus ihm werden wird?", fragte die Mutter endlich. 
  "Keine Ahnung!", erwiderte der Vater. "Junge, was willst du eigentlich einmal werden? Das weißt du nicht? Na, egal!". 
  "Computerfachleute sind heute sehr gefragt." 
  "Ja natürlich", meinte der Mann ironisch, "die nehmen ausgerechnet Leute, die in Mathematik eine 5 haben". Sein Tonfall war verächtlich. 
  "Dann hat er bei seiner Arbeit wenigstens nichts mit anderen Menschen zu tun. Das mag er doch nicht. Er ist am liebsten für sich alleine." Sie überlegte. "Der arme Junge. Was wird nur aus ihm werden?" 
  "Eine Familie hat der bestimmt mal nicht. Da kann er sich ruhig ein Beispiel an seinem Vater nehmen. Nur für ihn geh ich jeden Tag aufs Amt." Der Mann rümpfte die Nase. Nach kurzer Bedenkzeit fuhr er fort: "Seine Haare sind außerdem so lang. Trägt man die Haare derzeit nicht kurz? Seine sind immer so lang." 
  "Vielleicht findet er deswegen keine Freundin." 
  "Junge, schneide doch endlich deine Haare ab!", sagte der Mann barsch. 
  "Frag doch das nächste Mal die Therapeutin, warum er noch keine Freundin gefunden hat." 
  "Sie sagt, wir brauchen uns keine Gedanken zu machen" Der Mann war leicht  geistesabwesend. "Sie hat alles im Griff. Ein paar Stunden noch ..." 

  "Seien wir doch froh, daß unser Junge so brav ist und mit Mädchen nichts am Hut hat", meinte die Frau. 
  "Du hast recht", bestätigte der Mann. "Wenn ich nur an den mißratenen Halbwüchsigen denke, der daheim im Stadtpark dieses 13-jährige Mädchen mißhandelt hat." 
  "Ja, abscheulich, so etwas!" Die Frau nickte eifrig.  
  "Vergewaltigt von einem Jungen, nur wenige Jahre älter als sie selbst, laut Aussage des Mädchens. Man muß sich das nur einmal vorstellen. Es hätte auch unser Sohn sein können, vom Alter her." Er schüttelte den Kopf. "Sie haben ihn noch immer nicht gefaßt." 
  "Unser Sohn hätte es sein können?". Die Frau war entrüstet. "Der liest doch immer nur seine geliebten Bücher". 
  "Nein, um den müssen wir uns wirklich keine Sorgen machen", pflichtete der Mann ihr schnell bei. "Stimmt’s Junge, du interessierst dich nur für deine Bücher?" 

Der Junge lächelte leicht und dachte zurück an das Mädchen im Stadtpark.  

 

 
 

 

Udo Schmitt, Juli 2000

 
 

 
 
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