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Die Logik  

  
 

"Alle sind die Masse", sinniert der Hilfsarbeiter und nimmt die Schaufel zur Hand. "Es möchte jedoch keiner zur Masse gehören, also ist die Masse keiner".  

Der Vorarbeiter überlegt, während er dampfenden Asphalt auf die Straße schaufelt. Schließlich meint er bestimmt: "Die Masse hat recht. Da aber keiner die Masse ist, hat auch keiner recht." Auch der Hilfsarbeiter beginnt wieder zu überlegen.  

Da kommt der alte Grieche Zenon von Elea und schießt einen Pfeil ab, der jedoch in der Luft stecken bleibt. Achilles und die Meter-Schildkröte machen einen Wettlauf - die Logik überholt jedoch beide  

Wenig davon beeindruckt sagt der Lehrling: "Ich bin die Masse, also habe ich recht."  
  
Die anderen schütteln ungläubig die Köpfe. Ihr Gefühl sagt ihnen, daß der Lehrling irren muß. Sie lachen schließlich und wollen den Beweis. Der Lehrling stellt seine Schaufel an die Leitplanke und erklärt: "Seht doch, die Masse ist kleiner, wie ihr eben sagtet ... Und ich bin kleiner!" Diese Erkenntnis präsentiert er mit einem triumphierenden Grinsen.  

Der Vorarbeiter rümpft die Nase: "Da hast du mal wieder etwas falsch verstanden. Nimm lieber deine Schaufel und fülle die Löcher." Nach einer kurzen Denkpause fügt er noch hinzu: "Außerdem ist die Schildkröte noch kleiner."  

"Das ist wahr", sagt der Lehrling erschrocken und wird ganz weiß im Gesicht. Der Hilfsarbeiter versucht zu trösten und nimmt ihn kollegial in den Arm: "Hör auf zu weinen und sei unverzagt. Es kann schließlich nicht jeder die Masse sein."  

Der Lehrling beruhigt sich schnell und wagt noch einen zweiten Versuch: "Doch verstehe ich nicht, wer die Masse sein soll, wenn sie kleiner ist - das muß man schließlich relativ sehen.  Irgend etwas wird immer kleiner sein, als das, was als kleinstes angenommen wird. Es führt unsere Überlegungen ins Unendliche, ins Unerreichbare, ins Unerfaßbare." Schnell nimmt der Lehrling nach seinen Ausführungen die Schaufel in die Hand und füllt die Löcher der Straße.  

Der Vorarbeiter nickt zufrieden und sagt altväterlich: "Ja, die Masse ist unerfaßbar, denn sie besteht aus so vielen einzelnen Individuen, die man gar nicht alle erfassen kann, um die Masse genau bestimmen zu können. Denn seht: Alle sind die Masse.  Und wer sind wir schon alle? Ein Häufchen Elend, bestehend aus lauter kleinen Steinchen, die nicht zusammen passen."  

"Ja!", sagt der Hilfsarbeiter nachdenklich. Auch er beginnt wieder zu schaufeln. "Die Masse sind alle - da jedoch keiner zur Masse gehören will, besteht die Masse aus keinem, der jedoch noch gefunden werden muß."

 
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