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Tollhaus
 

Der Glockenton im Kopf, summend, wie ein ständiger Nachhall in einem
italienischen Dom. Zeitlich eingeordnet irgendwann nach dem Urknall,
blaue Planeten rasten mit lauten Fluggeräuschen auseinander, ohne sich
an ihre Anfänge erinnern zu können.
 Heinrich wußte genau, daß er zufrieden war. Er ritt auf ruhigen,
wohltemperierten Wellen. Sein ewiger Traum ging in Erfüllung:  Ihm
konnte nichts mehr passieren.
 ,,Du bist über dem Berg", sagte eine sanfte Stimme beschwörend. Die
Stimme war tonlos. ,,Fasse Mut, fasse danach", befahl die Stimme und
Heinrich faßte danach wie ein tollwütiger Hund. Der Sommer war
wiedergekehrt, draußen stellte sich das Leben erneut ein. Heinrich
erinnerte sich an den Schmetterling, der Blut in seine Flügel pumpte.

 ,,Sommermorgen", flüsterte Heinrich. Es war ein Sommermorgen und die
Dunkelheit schien vergessen. Heinrich war glücklich, er wußte genau,
daß er glücklich war. Jetzt würde sich nichts mehr verändern, sagte er
sich, keine Aufregung in seinem zukünftigen Leben.

 ,,Ich werde jetzt ein ausgeglichenes Dasein führen, nichts
überstürzen. Es kommt ein Tag nach dem anderen, kein Augenblick wird
übersprungen. Die Zeit soll gleichmäßig vor mich hin fließen. Ich will
mich von ihr treiben lassen. Alles wird gut.
 Heinrich lächelte. Er lächelte den ganzen Tag. ,,Mögen die Menschen
mir auch Grimassen schneiden und böse Worte sagen, ich werde sie alle
anlächeln. Etwas anderes als zu lächeln wird nicht mehr nötig sein,
Worte sind  überflüssig. Ich kann meine Stimme getrost vergessen."

 Es war der Gleichmut, die Gleichgültigkeit, die sich letztendlich
auszahlte. Heinrich legte sich nieder und war ganz einfach glücklich.
Er verbrachte den ganzen Tag mit nichts anderem, als sich  zu bemühen,
glücklich zu sein. Heinrich wollte keine Alpträume mehr, die an seinen
Nerven zerrten, die ihn in die Tiefe drückten. Er fühlte sich wie auf
dem Gipfel eines Berges, hoch über der Welt, er war sehr glücklich,
sehr, sehr glücklich, alles wurde gut. Heinrich spürte, daß es Ostern
war. Es mußte ganz einfach Ostern sein, in so einer  glücklichen Zeit.
Die Sonne schien, die Vögel kehrten wieder, aus  dem  Süden, und
beschlossen, die warme Jahreszeit in diesem Land zu verbringen.
 
 Heinrich lag auf dem Bett und freute sich auf den sich ankündigenden
Sommer, den er durch sein offenes Fenster genau wahrnehmen konnte.
Draußen feierte man das Fest der Erlösung. Heinrich wurde von einer
Ergriffenheit befallen, bei dem Gedanken, daß alles und jeder erlöst
werden würde. In seinen Geist drang ein Schimmer von Bewußtsein. Er
stellte sich vor, wie das Geisteslicht wieder in die Körper
zurückkehren würde. Denkvorgänge waren schwierig. Es kostete
Anstrengung, nach den naheliegenden Sätzen zu greifen. Sie wurden bald
von einförmigen Bildern abgelöst. Es war ein Drang, eine Strömung
spürbar, die alles nach unten zog, den Wasserfall hinab oder
kopfüber, im  Ausguß verschwindend, von Meereswellen zugedeckt.
Landschaften waren  weiträumig und ohne Bebauung. Ein Wald konnte
schemenhaft am Horizont wahrgenommen werden. Hauptsächlich flossen
aber die verschiedensten Farben ineinander über. Heinrich sah bunte
Seifenblasenbilder, deren Schlieren nie zur Ruhe kommen wollten und
sich spiralförmig einen Mittelpunkt zubewegten. Heinrich wurde von
Stimmungsschüben erfaßt.
 ,,Alle schrien nach Regen", lachte er, ,,aber mit mir kam die Sonne.
Alles Spinnengetier wurde hinweg gespült von der großen Sonnenflut.
Im Halbdunkel der Keller rotteten sie sich zusammen."  Heinrich
schrie schrill auf. Er war glücklich in seiner Wahnvorstellung. Er
lächelte sich alles von der Seele.
 ,,Nur keine Erwartungen mehr, keine Erwartungen." Das Glück
sprudelte ihm aus allen Poren. Heinrich ging von einem stillen Lächeln
zu einem lauten Lachen über. Das stille Lächeln war aber beliebter.
Die  Lautlosigkeit wurde belohnt, es gab ein paar Milligramm weniger
von jenem unfreiwilligen Glück, das alle selig verstummen ließ.

 Die schwarzen Häuser wurden irgendwann nach den neuesten
Erkenntnissen der Psychologie umgemalt. Helle, freundliche Farben
waren überall. Heinrich lächelte. Kein Geist konnte sich an den
Farben der Häuser erzürnen, alles war sehr beruhigend und angenehm,
Heinrich lächelte. Lächeln gehörte zur Tagesordnung, es lag in der
Luft, es war ein unausgesprochener Befehl. Heinrich entwickelte sich
innerhalb weniger Tage zurück zum Kinde, er kümmerte sich um nichts
mehr. Die Sorgen machten sich die weißen Flatterkittel, die sich immer
wieder um sein Bett versammelten und ihm fröhlich zulächelten, so als
würden in ihren eigenen Blutbahnen jene künstlichen Glückssubstanzen
zirkulieren. Die Flatterkittel waren die einzige Abwechslung in
Heinrichs Leben. Sie bemühten sich ständig, Heinrich nach jeder
Aufregung sogleich wieder zu beruhigen, stachen unvermutet mit ihren
spitzen Nadeln zu. Heinrich wurde darauf immer sehr ruhig, schwebte
auf und davon und war ganz einfach glücklich, so sehr, daß die Grenze
zwischen Glücksgefühl und Schmerz zu fließen begann.

 In der Wirklichkeit wurde das Osterfest schon vor vielen Monaten
gefeiert. Die Welt draußen wußte dies genau. Aber Heinrich wußte es
nicht, es wurde ihm verschwiegen. Heinrich konnte,  wenn er dies
wünschte, täglich das Osterfest feiern, wenn er die Anstaltsordnung
damit nicht störte. Die aufrecht zu erhaltende Ordnung bestand
hauptsächlich aus seligem  Lächeln. Es war der Erfolg ärztlicher
Arbeit. Manche Menschen waren nicht glücklich, sie stießen immer
wieder laute Schreckensschreie aus  Diese Menschen wurden aber von
niemandem geliebt, man verachtete sie. Heinrich wurde geliebt, weil er
leise vor sich hin lächelte und immer zufrieden war.

 Alles im Zimmer war rosa, gelb und hellblau. Dies erstreckte sich von
den Wänden, zum Bettlaken, bis zur Zimmereinrichtung. Auch die
Gedanken färbten sich allmählich in diesen gemäßigten Farben.
Heinrich wußte nicht, ob er zu manchen Zeiten überhaupt noch etwas
dachte. Vielleicht, fragte er sich, gäbe es Augenblicke, in denen sein
Gehirn aussetzte, eine Ruhepause einlegte. Es würde nicht gebraucht,
fände keine Verwendung mehr. Dann, sagte er sich, wäre es nur
praktisch, die Gedanken wie das Licht mit einem Lichtschalter
auszuknipsen. Das sei dann ein seelenloses Sterben, ein Sterben mit
der kurzen Angst im ersten Moment der Dunkelheit. Heinrich stellte
jedoch nach einer Phase mühsam erreichter Konzentration fest, daß
sein Zustand eher einem haltlosen Gleiten in eine andere  Daseinsform
glich. Arme und Beine waren unbrauchbar geworden. Sie eigneten sich
nicht mehr zum Abstützen. Es war ein statisches Gleiten, Heinrich
bewegte sich nicht von der Stelle. Er wurde vielmehr in sich selbst
bewegt, sein Inneres wurde nach außen gekehrt, er wurde umgewälzt wie
durch die Strömung eines mächtigen Strudels. Er blieb schutzlos
liegen. Manchmal zogen Gedanken wie Wolken am Horizont auf. Sie
schwebten leise und langsam vorbei und wurden sogleich, wenn sie aus
dem Blickfeld verschwanden wieder vergessen. Im Grunde war alles
einmalig, das ewig Wiederkehrende wurde stets als neues Erlebnis
empfunden, liquide  Kreisläufe mit verschwommener Konsistenz. Es
kostete Phantasie, Realitäten zu  erkennen
 Heinrich lag auf seinem hellblauen Bett, schaute zur hellgelben Decke
und war glücklich.
 ,,Ich habe keinen Wunsch mehr, mich hält nichts auf der Welt."
 Heinrich fühlte, daß er am Ende seines Weges angelangt war, daß er
sein Ziel nicht mehr erreichen würde. Was stand am Ende? Die absolute
Wunschlosigkeit. Heinrich fühlte seinen Einfluß schwinden. Zunächst
waren die Gewichte gleich verteilt. Heinrich war plötzlich
vorausschauend. Er dachte an Aufgeben.
 Die flatternden, weißen Kittel waren sehr zufrieden mit Heinrich,
wenn er glücklich die Decke anlächelte. Lächelte Heinrich jedoch
einmal eines Tages nicht, so waren die Kittel enttäuscht und ratlos
und machten unglückliche Gesichter. Was konnte man noch tun, fragte
man mit psychologisch geschultem Vokabular.

 Hermann stand vor der Mauer, auf der anderen Seite, mit Blumen in der
Hand. Industrielandschaft, sagte man gemeinhin, so wie man von
Flußlandschaft oder Berglandschaft sprach. Ein nie versiegender
Verkehrsstrom füllte wiederum die Gesundungslandschaft mit auf-  und
abschwellenden Geräuschen Tausender von herannahenden
Motorexplosionen. Die davon ausgehende Gefahr für Leib und Leben
erkannt man erst in den späten siebziger Jahren. Pulsierende
Lebensader, nannte man in Prospekten diesen überdimensionalen
Verkehrsweg gern. Die  Stadt war stolz auf ihre Modernität. Baukräne
zerschnitten den Horizont, tosende Preßlufthämmer bohrten sich ins
Erdreich. Die Stadt tat alles für  die soziale Gerechtigkeit. Dies
konnte man den optimistischen Plakaten entnehmen. Die Gesundheit ihrer
Mitbürger war ihr wichtig. Es wurde alles geregelt. Hermann wußte
Heinrich in guten Händen. Er konnte die Mauer durchdringen.

 

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