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Weg!
 
 
David C. Jensen
 
 
 

 
Er wischte sich mit dem Tuch über die Stirn und sah in den Spiegel. Die Stirn war faltenlos. Seine Augen sahen ein bißchen müde aus. Er wischte sich mit dem Tuch über die Wangen. Waren es wirklich Tränen, die er sah? Er wunderte sich. Wasser lief ihm über das Gesicht. Schnell wischte er mit dem Tuch seine Tränen fort. Die Haut war weiß. 

Dann wischte er mit dem Tuch über die Augen. Sie verwischten, als seien sie nur mit Farbe aufgemalt. Er wischte kräftiger. Dort, wo sich eben noch sein Auge befunden hatte, erblickte er nun einen weißen Fleck. Ungläubig starrte er in den Spiegel, einäugig. Es sah grotesk aus. Sofort probierte er das Wischen an seiner Nase. Auch sie verschwand. 

Er hatte das Gefühl, daß seine Sehfähigkeit durch das fehlende Auge litt. So konnte er die Entfernung zwischen dem Schrank und der Truhe nur noch ungenau schätzen. Er ging näher an die Truhe heran und wischte mit seinem Tuch an ihrem Holz. Nach kurzer Zeit wischte er eine kleine Öffnung in die Truhe, durch die er deren Inhalt ungenau erkennen konnte. Er wischte hektisch weiter. Es kamen längst vergessene Erinnerungsstücke zum Vorschein: Photos der Kinder, Briefe an  eine Frau, Souvenirs aus aller Herren Länder. Er wischte alles weg, so schnell er konnte. 

Er wollte es nicht glauben. Was bedeutete dies alles? War es nur ein Traum? Auch die Haustüre ließ sich mühelos mit einigen leichten Wischern beseitigen. Seine frühere Frau und die Kinder kamen vorbei. Auch sie lösten sich in Luft auf, wischte er nur ein paar mal über ihre Körper. Kein Klagen, kein Weinen - sie wurden einfach ausradiert. Er ging hinaus in den Garten, beseitigte auf die gleiche Weise sein Haus. Er konnte es noch immer nicht fassen. Dieses Verschwinden aller Gegenstände mußte doch irgendwann einmal aufhören. Er wischte über sein Auto – weg! Es fragte ihn jemand, warum er denn alles auslöschte. Die unangenehme Frage wischte er einfach weg, ebenso den Fragenden. Die Straße löste sich in Nichts auf, selbst Bäume und Sträucher waren in wenigen Sekunden verschwunden. Auch das Wasser ... nur noch weiße Flecken blieben zurück. Er wischte, immer schneller. Konnte, was er sah, nicht glauben. Alles war weg. Das Gras, der Mond, die Sterne und ... die Sonne. Danach war es finster und kalt. Was blieb ihm übrig? Fast nichts mehr. Das wischte er auch weg, solange er noch konnte. 
 

 

Udo Schmitt, Juli 2000
 
 
 

 
 

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